Visum, Krankenversicherung und Sperrkonto: Die Checkliste für Studenten, Fachkräfte und Gründer, die nach Deutschland einwandern möchten, ist lang und wirkt schnell einschüchternd. Alexander Ruthemeier gründete 2017 mit zwei Freunden die Plattform Expatrio als One-Stop-Shop für Einwanderer, um genau an dieser Stelle Hilfe zu leisten. Im Interview mit firma.de erzählt der Unternehmer, wie seine digitale Komplettlösung dem Fachkräftemangel hierzulande entgegenwirken soll und warum Expatpreneurs bisher das richtige Ökosystem fehlt.
Was war der Startpunkt für Expatrio?
Zuerst hat sich unser Geschäftsmodell nur an Studierende gerichtet. Vor zwei Jahren hat alles damit angefangen, dass wir die Beantragung einer deutschen Krankenversicherung aus dem Ausland digitalisieren wollten. Das war bis dahin ein Prozess, der über Faxgeräte, Scans und E-Mail abgewickelt wurde. Wir konnten dafür die Techniker Krankenkasse als Innovationspartner gewinnen und gemeinsam eine digitale Antragsstrecke entwickeln. Das hat uns gezeigt, wie schwierig es ist, sich in Deutschland mit der Bürokratie auseinanderzusetzen – seien es das Sozialversicherungssystem oder die Voraussetzungen für ein Visum.
Was ist neben der Versicherung noch wichtig?
Banking ist ein großes Thema. Das heißt, vor allem als außereuropäischer Student muss man finanzielle Mittel nachweisen, mit denen man seinen Lebensunterhalt bestreiten kann. Als Student hat man ja meistens kein Einkommen. Dabei ist das meistgewählte Produkt ein sogenanntes Sperrkonto beziehungsweise auf Englisch „Blocked Account”.
Sperrkonten sind für den Visumsantrag für Studierende nötig. Zunächst muss ein vorgeschriebenes Mindestguthaben einbezahlt werden, durch den der geplante Aufenthalt in Deutschland finanziell abgesichert wird. Der Betrag liegt für Studierende aktuell bei 10.236 Euro pro Jahr. Nach der Einreise darf nur ein gedeckelter Monatsbetrag entnommen werden: 853 Euro.
Was bieten eure Banking-Lösungen?
Das Expatrio Sperrkonto bieten wir seit Anfang 2018 komplett digitalisiert an und haben unsere Produktpalette zur Vervollständigung noch um ein Girokonto erweitert. Das heißt unsere Kunden erhalten in nur einem Schritt das Sperrkonto plus Girokonto, damit sie Bargeld abheben können und Online-Banking nutzen können.
Wie sind Einwanderer denn vorgegangen, bevor es eine digitale Komplettlösung gab?
Der Markt war sehr fragmentiert. Das heißt, wenn ich eine Krankenversicherung wollte, musste ich mir die selbst besorgen. Wenn ich ein Sperrkonto gebraucht habe, wurde das meistens über die Offline-Lösung der Deutschen Bank gemacht, die für viele Jahre der Platzhirsch war und mit den jeweiligen Botschaften zusammengearbeitet hat. Die Botschaften haben dadurch Dienstleistungen für dieses privatwirtschaftliche Unternehmen übernommen – gegen eine Aufwandsentschädigung. Ich empfinde das nicht als die hoheitliche Aufgabe einer Behörde, aber es war natürlich alternativlos.
„Die Einreise nach Deutschland ist kompliziert und die Bürokratie ist groß. Deshalb ist auch unsere Lösung groß, aber dafür nicht kompliziert.”
Wolltet ihr der neue Platzhirsch werden?
Es war an der Zeit für eine Digitalisierung, um diese Prozesse so anzubieten, wie es der junge Kunde erwartet. Gleichzeitig wollen wir verhindern, dass Einwanderer Deutschland schon im Visumverfahren als digital rückständiges Land kennen lernen. Die Einreise nach Deutschland ist kompliziert und die Bürokratie ist groß. Deshalb ist auch unsere Lösung groß, aber dafür nicht kompliziert. Unser Ziel ist es, nicht nur den Mehrwert für unsere Kunden, sondern eine Entwicklung auf gesellschaftlicher Ebene herbeizuführen. Wir wollen die Einreise nach Deutschland attraktiver machen – auch vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels.
Woher kam der Impuls für euer Geschäftsmodell?
Ich bin – und ich erschrecke mich darüber ganz gerne mal selbst – jetzt seit über zehn Jahren in der Finanzdienstleistungsbranche tätig. Zur Zeit, als ich noch bei Rocket Internet Unternehmen mit aufgebaut habe, gemeinsam mit vielen ausländischen, super qualifizierten Kollegen, habe ich bemerkt, dass es selbst für die Leute, für die viel organisiert wird, noch eine große Herausforderung bleibt. Dort habe ich nebenbei pro bono versucht, zu helfen: „Die beste Krankenversicherung gibt’s hier” oder „Kümmer dich um eine Haftpflichtversicherung da”. Außerdem ist es in Deutschland noch wichtig, den Arbeitgeber mal nach einer betrieblichen Altersvorsorge zu fragen.
Wurden dann auch andere auf deinen Versicherungs-Support aufmerksam?
Ja. Darauf folgte der Impuls mehrerer Personalabteilungen, das ganze in ein Seminarformat zu packen. In den Seminaren haben mir die Teilnehmer ihre Anträge für die Krankenversicherung mitgebracht (lacht).
Und da hast du eine Chance entdeckt?
Ja, mit ein wenig Geschäftssinn war dann klar: Problem erkannt, Chance genutzt. Erst haben wir angefangen, eine Offline-Lösung zu entwickeln, später dann digital. Ein notwendiger, echter Problemlöser.
Versicherungen sind eine der wichtigen Säulen bei der Einreise. Neben einer Krankenversicherung bietet Expatrio im Paket auch Haftpflicht-, Hausrat-, Repatriierungs- und eine Auslandsreisekrankenversicherung für den Zeitraum direkt nach der Einreise.
Du sprichst von wir. Wer steckt noch hinter Expatrio und wie habt ihr euch gefunden?
Wir sind drei Freunde, die sich schon lange kennen. Dominic Otto, Tim Meyer und ich. Wir kommen alle aus Osnabrück oder dem Umland. Über die unterschiedlichsten Wege haben wir uns alle in Berlin wiedergefunden. Außerdem teilen wir alle drei den Hintergrund beim Inkubator Rocket Internet bzw. Ventures von Rocket Internet. Jeder konnte sich dort etwas Eigenes aufbauen. Nach dieser Phase hat jeder erst mal unterschiedliche Dinge ausprobiert – in meinem Fall auch mal nicht so erfolgreich.
Das hat dich offenbar nicht aufgehalten.
Nein. Samstags haben wir uns sowieso manchmal auf ein Bierchen getroffen und gedacht: Hey, die Idee ist so interessant. Wollen wir das nicht gemeinsam versuchen? Danach hat sich alles glücklich gefügt – zeitlich und finanziell. Jetzt, zwei Jahre später, sind wir wirklich in einer guten Lage und interessanten Phase angekommen.
Was sind die größten Herausforderungen für Expatriates für 2020 und danach?
Die sind sehr vielfältig. Als gut ausgebildete Fachkraft, die in Deutschland gesucht wird – nicht notwendigerweise mit akademischer Ausbildung – musst du erstmal die Motivation besitzen, überhaupt nach Deutschland zu gehen anstatt nach Australien, Kanada, die USA, oder beliebte
Einreiseländer für Fachkräfte in Europa wie UK oder Frankreich.
Welche Kriterien sind dabei entscheidend?
Bei dieser Wahl spielen unterschiedliche Faktoren eine Rolle, die wir bei Expatrio gar nicht beeinflussen können. Deutschland als Einwanderungsland attraktiv zu machen, das ist ein Thema für die Politik. Das hängt direkt zusammen mit dem Visumsprozess, der Anerkennung ausländischer Abschlüsse, aber auch schon einen Schritt vorher: Erstmal muss man überhaupt einen Termin in einer Botschaft bekommen.
Wie schwierig kann das werden?
Da gibt es sehr unterschiedliche Service-Level. Eine Botschaft in Islamabad, Pakistan, wo sich sehr viele Mediziner für ein Visum in Deutschland bewerben, hat teilweise Wartezeiten von drei bis sechs Monaten. Bei Studentenvisa sieht es meistens noch viel schlimmer aus. In Mumbai oder Delhi haben sehr viele IT-Fachkräfte oder Ingenieure die Motivation, nach Deutschland auszuwandern, aber die Umsetzung ist oft sehr schwierig. Es gibt außerdem eine steigende Anzahl ausländischer Fachgründungen im IT-Bereich, die dann in den Botschaften besonders erklärungsbedürftig sind.
Wie erleben Expats das Thema Sprache und Kultur hierzulande?
Deutschland besteht immer noch auf ein bestimmtes Sprachniveau bei der Einreise. Das heißt, dieses Hindernis kann den Einreiseprozess trotz anerkannter Qualifikation noch einmal verzögern. Bei einem Goethe-Institut oder einem anderen privatwirtschaftlichen Träger im Ausland muss vorher ein gewisses Sprachniveau erreicht werden. Dabei meldet sich vielleicht schon das Bauchgefühl mit der Frage: Wie kann ich in Deutschland überhaupt zurechtkommen, wenn ich nicht gerade in Berlin lebe? Dort wird viel Englisch gesprochen, wie ja auch Herr Spahn schon festgestellt hat.
Hier kann also das erste große Hemmnis entstehen?
Ja. Vielleicht habe ich vor, beim gesunden deutschen Mittelstand zu arbeiten, wo kein Englisch gesprochen wird. Da wird die Integration schwierig. Das Willkommen in den Städten oder Dörfern kann ein Problem sein.
Was bedeutet das für den Wettbewerb um qualifizierte Fachkräfte?
Alle diese Schwierigkeiten erweisen sich im internationalen Kontext als Nachteil, weil so natürlich englischsprachige Länder deutliche Vorteile haben, Fachkräfte zu gewinnen. Im internationalen Vergleich muss sich Deutschland diesen Herausforderungen stellen und in Konkurrenz treten.
Wie hast du den Gründungsprozess in Deutschland erlebt?
Wir haben im August 2017 Expatrio mit firma.de gegründet. In diesem Gründungsprozess haben wir euch als große Hilfe wahrgenommen. Vor allem bei der Strukturierung aller administrativen Anliegen, die es so gibt und von denen man natürlich nichts weiß. Ich glaube, die Kombination aus Checklisten und persönlicher Beratung, aber auch technischen Lösungen mit dem Netzwerk an Steuerberatern, Notaren und Banken war für uns wertvoll.
Wo siehst du Stolpersteine?
Die Hürden, die wir gesehen haben, lagen vor allen im Zusammenspiel zwischen Notaren und Banken. Wenn klar ist: Wir wollen gründen, befinden uns dann „in Gründung”, müssen ein Geschäftskonto eröffnen, kriegen aber keinen Termin bei den Banken – und die Online-Banken sind völlig überrannt. Das heißt wir können erst nach Wochen das Stammkapital einzahlen, sind dann erst den Status „in Gründung” los. Als Unternehmen in der Finanzdienstleistungsbranche muss man sich außerdem danach zertifizieren und registrieren lassen. Dieser Schritt ist allerdings erst möglich, wenn die Gründung abgeschlossen ist. Und danach beginnt erst die Anmeldung beim Finanzamt.
Das heißt die Planung ist besonders wichtig, um keine kostbare Zeit zu verlieren.
Genau. Vieles greift ineinander und das ist sicherlich auch richtig so. Auf der anderen Seite ist es ohne professionelle Begleitung, glaube ich, sehr schwierig. Wenn sich an dieser Stelle die Frage anschließt, wie schwierig es für Expatriates ist, in Deutschland zu gründen… da nimmt die Komplexität noch enorm zu.
Was erwartet ausländische Gründer in Deutschland?
Für ausländische Gründer sehe ich die Herausforderung ähnlich wie bei den Fachkräften. Der administrative Prozess ist natürlich nicht derselbe, aber ein ähnlicher. Bei gewissen Nationalitäten wird hier dann nochmal geschaut, dass eine Gründung nicht aus der Arbeitslosigkeit erfolgt, um einen Aufenthaltstitel zu behalten. Das heißt da sind die Regularien noch etwas strenger. Auf Englisch gibt es schon ein tolles Wort für die ausländischen Gründer: Expatpreneur.
Was muss sich deiner meiner Meinung nach für Expatpreneurs verbessern?
Die administrativen Hürden. firma.de bietet da ja schon Lösungen in englischer Sprache. Zusätzlich müssen die Voraussetzungen stimmen, die vor Ort geschaffen werden. Das gilt für deutsche Gründer natürlich ebenso wie für internationale Gründer.
Welche Voraussetzungen meinst du konkret?
Zum Beispiel wie man auf die Gründung vorbereitet wird. Wie wird die Gründung begleitet? Welche Förderungen gibt es aus der Politik? Welche Chancen gibt es auf Risikokapital? Das sind ganz wichtige Kriterien, die ein Ökosystem erfüllen muss. Da ergeben sich in Deutschland meiner Meinung nach nur ganz wenige Standorte, die für ausländische Gründer wirklich attraktiv sind – und das sind natürlich die Metropolen wie Berlin.
Alexander Ruthemeier unterstützt weitere Projekte: Gemeinsam mit Berlin Partner versucht Expatrio, den Wirtschaftsstandort Berlin für internationale Gründer attraktiver zu gestalten. Als Geschäftsführer der gemeinnützigen Deutschen Gesellschaft internationaler Studierender (DeGiS) hat er ein städte- und universitätsübergreifendes Netzwerk für Studierende geschaffen. Zudem beteiligt er sich als Angel Investor an jungen Technologieunternehmen in der Gründungsphase.
Bilder: Expatrio